Leibis existiert nicht mehr - Bilder aus vergangenen Zeiten

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Lichtner 1955

Lichtner 1955

8 ай бұрын

Die „taz“ schrieb am 18.11.1994
Eine Landschaft verschwindet, ein Dorf stirbt, die Menschen sind schon weg. Im Thüringer Wald wird die größte Talsperre Mitteleuropas gebaut, obwohl der Wasserverbrauch gesunken ist. Gott hat 527 Jahre lang ein Auge auf den 104-Seelen-Flecken Leibis geworfen. Dort, wo der Thüringer Wald den größten Faltenwurf aufweist, steht das Geisterdorf Leibis. Sein Name, 1465 erstmals urkundlich erwähnt, wurde inzwischen von allen Landkarten gestrichen. Schon 1979 erfuhren die 104 Dorfbewohner, daß ihr Tal eines fernen Tages geflutet würde. So recht mochte niemand daran glauben. Für 14 Millionen Mark hat die Talsperrenverwaltung in den letzten beiden Jahren ein Neu-Leibis am Ortsausgang von Unterweißbach errichten lassen. Neu-Leibis ist so neu, daß es auf keinem Verkehrsschild steht. Daß es dort keine Bürgersteige gibt. Daß kein Bäcker Brötchen verkauft, kein Metzger Koteletts, kein Kiosk Zigaretten.Auf einem Grashügel stehen 23 weißgetünchte Einfamilienhäuser wie aus dem Quelle-Katalog. Jedes Haus hat ein bißchen wimbledon- akkurat gehaltenen Vorgartenrasen und auf Limousinengröße zugeschnittene Garagen, in denen die Leibiser ihre Trabis unterstellen. Die 102 umgesiedelten Seelen teilen sich eine Münztelefonzelle und einen Briefkasten, der montags, mittwochs und freitags geleert wird. Bettina Kessel, 68, etwa hat bis heute „nicht so richtig“ begriffen, daß ihr Heimatdorf in Kürze 100 Meter unter dem Wasserspiegel liegen wird. Manchmal träumt sie das und wacht dann zitternd auf. Mir hat's in Leibis gefallen.“ Widerwillig führt sie nun ihren Hund 50 Meter nach links und 50 Meter nach rechts auf der asphaltierten Straße aus. Ihre Nachbarin Sigrid Werz stopft die klammen Hände in die Kittelschürze und findet einen entschiedenen Vorteil im verordneten Umzug: „Hier scheint zumindest die Sonne.“ Im alten Leibis war sie im September unter- und erst im März wieder aufgegangen. Sie hatte sich den Winter über hinter den Bergen versteckt gehalten. Aber der „viele Wind“ in Neu- Leibis! „Der ist nicht schön.“ Wie auch der schleichende Zerfall ihres alten Dorfes, in dem sie vor 58 Jahren zur Welt kam. „Hoffentlich reißen sie es bald ab, dann hätten wir endlich unsere Ruhe“, sagt sie und flüchtet in ihr 330.000-Mark-Refugium. Das Rotkraut brennt sonst an. Der Versuch der Talsperrenadministration, die Leibiser mit Haus und Gasheizung ruhig zu stellen, wirkt nur begrenzt. Die Seele des Dorfes ist beim Umzug verloren gegangen. Das Wiedergutmachungsgeld hat seine betäubende Wirkung bis heute nicht richtig entfalten können. „Jeder ist nur noch für sich“, sagt Jens Rabe. Im alten Leibis besaß er ein Sägewerk, jetzt zupft er Unkraut und poliert seinen Gartenzwerg, von dem er noch nicht so genau weiß, wo er am besten „wirkt“. „Es gibt einfach kein Gemeindeleben mehr“, noch nicht mal eine Dorfkneipe, in der man zusammensein könnte. Im alten Leibis traf man sich zum Plausch in der Dorfschule, und der Pfarrer spielte auf einem Harmonium. Jetzt ertönt aus allen Häusern die gleiche Musik: ARD, ZDF oder RTL. So wie die Leibiser in der Talsperre einen Schicksalsschlag sehen, so haben sie auch ihren Sprachschatz um ein Wort erweitert, das bislang dem kapitalistischen Westen vorbehalten war: „Es ist anonym geworden unter uns.“ Einmal aber hat die Dorfgemeinschaft noch funktioniert. Als 102 Leibiser ihre Koffer packten und den drei Kilometer entfernten Neu-Leibis-Hügel erklommen, zogen zwei Leibiser nicht mit. Und das war Absicht. Gerhard Lotze, 61, und Jürgen Zerlitzki, 26, hätten im sauberen Neu-Leibis nur gestört, war des Dorfes Ansicht. Die beiden trinken gerne und reden ungeschminkt. 102 Leibiser mögen das nicht. Deshalb hielten sie alle noch einmal zusammen und konnten die Talsperrenverwaltung davon überzeugen, daß Lotze und Zerlitzki besser nicht am kollektiven Umzug teilnehmen. Den beiden ungleichen Männern wurde daraufhin eine drittklassige Mietwohnung in Unterweißbach zugewiesen. Aber dorthin wollten sie nicht. Und so wohnen die „Asozialen“ - so die Neu- Leibiser über die letzten Alt-Leibiser - noch immer im alten Dorf. Längst ohne Strom und ohne Wasser. Für die beiden die Versorgung aufrechtzuerhalten würde sich nicht lohnen, rechnet die Talsperrenverwaltung vor. Und außerdem will sie sie ja loswerden. „Gewaltlos“, sagt Heiko Kraft. Die Dissidenten des alten Leibis aber wollen bleiben, solange es geht. Lotze und Zerlitzki essen Kartoffeln aus Vorgärten und Holunderbeersuppe. Einmal im Monat fahren sie auf ihren klapprigen Rädern zum Arbeitsamt nach Neuhausen, Unterstützung abholen. Einen guten Teil davon lassen sie in den Kneipen Unterweißbachs. Weil es dort warm ist. Nachts radeln sie dann die kurvenreiche Straße nach Leibis zurück. Und wenn die Neu-Leibiser bereits unter ihren Daunen liegen, flackern bei Gerhard Lotze und Jürgen Zerlitzki noch die Kerzen. „Damit die Vandalen wissen“, sagt Lotze, „daß da noch wer wohnt.“

Пікірлер: 8
@barbelmuller5965
@barbelmuller5965 8 ай бұрын
Vielen Dank für das Video. Leibis war ein idyllisches Dörfchen in einem wunderschönen Tal. Schade drum. 😢❤
@dianawohlleben7673
@dianawohlleben7673 8 ай бұрын
Vielen Dank für die schönen Bilder.
@ronny3863
@ronny3863 8 ай бұрын
Ich bin jedes mal begeistert von deinen Bildern /Videos. Großes Lob und Dankeschön 👍🏽
@Lichtner1955
@Lichtner1955 8 ай бұрын
Dankeschön 🥰
@Angelika.P
@Angelika.P 8 ай бұрын
Danke für diese schöne Reminiszenz an Leibis mit Bildern, als es noch bewohnt war! Sehr schade, dass dieses Dorf verschwinden musste.
@Lichtner1955
@Lichtner1955 8 ай бұрын
Danke
@newbeetle1378
@newbeetle1378 3 ай бұрын
Ab 1986 gingen die Bauarbeiten los für den Abriss des Dorfes und den Bau der Talsperre.
@van3847
@van3847 11 күн бұрын
Trauer, Trauer, Trauer..... 😤
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Lichtner 1955
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