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Tucholsky verstehen: Augen in der Großstadt (Gedichte-Karaoke 9) Rezitation/Analyse

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Christian Ebbertz

Christian Ebbertz

6 жыл бұрын

Gedichte A-Z: • A-Z: Gedichte verstehe...
Mein Vortrag (00:08)
Kommentare für den nötigen Durchblick (01:50)
Teleprompter (06:00)
TEXT
Augen in der Großstadt
Wenn du zur Arbeit gehst (0:12 - 6:05)
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang (0:42 - 6:38)
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück...
Vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang (1:06 - 7:03)
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
KOMMENTAR
Augen in der Großstadt
Die Augen sind das einzige, womit man in der Anonymität der Stadt kommuniziert, wenn überhaupt. In japanischen U-Bahnen wird per Hinweisschilder darum gebeten, direkten Blickkontakt zu vermeiden.
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
Mit sich selbst spricht der melancholische Sprecher und will mit dem „du“ seine Erfahrung verallgemeinern.
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Ein typischer Menschentrichter wäre auch die Treppe zur U-Bahn. Stellen wir uns vor, wie der Sprecher des Gedichtes die Rolltreppe abwärts fährt und in die Gesichter derer schaut, die ihm entgegen aufwärts fahren. An einem bleibt er hängen:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Dieses schöne Gesicht hat ihn kurz, aber tief berührt. Bei einer Begegnung, so stellt er sich vor, die Kontaktaufnahme ermöglicht hätte, wäre sie vielleicht sein „Lebensglück“ geworden. Aber er weiß, er wird dieses Gesicht nie wieder sehen.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Wenn nicht auch „Lebenswege“ gemeint sind, so ist es die immer selbe Straße, die tausendmal gegangen zu tausend Straßen wird. Und die, „die dich vergaßen“, sind die, die man an den Tagen vorher auch sah, aber so, wie man sie vergisst, wird man auch von ihnen vergessen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück...
Vorbei, verweht, nie wieder.
Wir haben hier fast einen Refrain vor uns mit nur wenig Abweichung von der parallelen Stelle der ersten Strophe. Also eher ein Chansontext als ein Gedicht. Die kleinen Abweichungen bringen nur die tiefe Berührung durch den Blick noch einmal intensiver zum Ausdruck: Das „Lebensglück“ wurde gefunden! Aber nur für Sekunden. Und das Verschwinden dieses Gesichtes in der Menge ist nur ein Beispiel für verpasste Gelegenheiten, die kein Zurückdrehen der Zeit einem wieder eröffnen.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es gibt nicht nur die schöne Frau. Der Blick des Sprechers öffnet sich jetzt auch für die anderen Menschen, zu denen man in irgendeiner Art in Beziehung treten könnte, wenn man die Gelegenheit dazu hätte und man nicht in aller Anonymität aneinander vorbei gedrängt würde: Freund, Feind, oder der Mitkämpfer für eine gerechtere Gesellschaft. Gewerkschaftsmitglieder, Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten: sie nennen sich gegenseitig „Genossen“.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
Der „Chanson“, wie ich den Text jetzt endgültig nennen möchte, endet versöhnlicher, als der melancholische Ton zunächst erwarten ließ. Der Blick der schönen Frau öffnet jetzt sein Herz für die ganze „große[] Menschheit“. Wenn es allen „am frühen Morgen […] am Bahnhof […]“ mit den „Sorgen“ gleich ergeht, kann man sich auch allen verbunden fühlen. Und damit wird ein Lied von der Einsamkeit in der Anonymität am Ende ein Lied von der Solidarität.

Пікірлер: 10
@nermine4051
@nermine4051 5 жыл бұрын
Ich muss das morgen vortragen
@christianebbertz7057
@christianebbertz7057 5 жыл бұрын
Viel Erfolg!
@lukasbrucke8946
@lukasbrucke8946 4 жыл бұрын
Danke hat mir sehr weiter geholfen
@christianebbertz7057
@christianebbertz7057 4 жыл бұрын
Das freut mich!
@alinadanecki1835
@alinadanecki1835 6 жыл бұрын
Ein sehr schönes Gedicht Sehr schön vorgetragen
@christianebbertz7057
@christianebbertz7057 6 жыл бұрын
Das erste Kompliment gilt sicher Herrn Tucholsky, für das zweite vielen lieben Dank!
@anashidayat5081
@anashidayat5081 9 ай бұрын
Wie viele Strophen und Versen hat das Gedicht?
@mio69_
@mio69_ 3 жыл бұрын
Ich werde gezwungen das für Deutsch zu gucken ._.
@ralleracingtv0210
@ralleracingtv0210 3 жыл бұрын
Same
@christianebbertz7057
@christianebbertz7057 4 жыл бұрын
Meine "Variationen" über den Refrain: kzbin.info/www/bejne/h4CwgqyQpdeJm9U
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