Hallo David, danke für das Video, deine Ausführungen sind eine echte Bereicherung und Unterstützung bei der Lektüre des Zauberbergs. Einen Punkt finde ich besonders interessant und zwar Thomas Manns Beziehung zur Psychoanalyse bzw. ihre Behandlung im Text. Mir gefiel deine Bemerkung über Krokowski als predigender Jesus. Wir befinden uns im Jahre 1907, die Psychoanalyse ist sicher noch nicht in dem Maße etabliert, wie sie es heute ist. Begriffe wie das Unbewusste, Verdrängung oder Fehlleistung lernt man heute in der Schule, damals war das sicher noch nicht üblich. Die Lehre war relativ neu, die "Studien zur Hysterie" erschienen 1895, Freuds "Traumdeutung" 1900. Von Freuds Strukturhypothese ( Ich, Es, Über- Ich) war noch nicht die Rede. Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Lehrmeinungen waren nicht allzu groß, das kam erst später mit Adler und Jung wenn ich mich richtig erinnere. Nun steht da dieser Krokowski, erzählt den meisten Patientinnen und Patienten etwas für sie vollkommen neues und bietet es stark vereinfacht als die ultimative Lösung an. Für die Kranken muß er zum Teil tatsächlich wie ein Heiland gewirkt haben. In diesem Falle allerdings ein sehr unseriöser. Mich interessiert jetzt natürlich wie die weitere Geschichte der Psychoanalyse Einfluß auf Thomas Manns Werk hatte und welche Positionen er innerhalb der verschiedenen Lehrmeinungen vertrat. Eine kleine Sache habe ich noch, die ich nicht genau prüfen konnte. Ist es richtig, das Thomas Mann nach dem Hippe - Kapitel die Niederschrift abbrach und erst 1919 wieder aufnahm? Wenn ja, kann man das irgendwie am Text festmachen? Vielleicht kannst du mir, oder auch gerne der Flaneur, bei der Beantwortung behilflich sein. Alles Gute, Thomas.
@ThomasMannProject2 ай бұрын
Hallo Thomas, vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Es klingt so, als seist Du in der Psychologie und Psychoanalyse ziemlich bewandert. Interesse, an einem Fokus-Video dazu als Gast mitzuwirken? Zur Unterbrechung nach dem Abschnitt Hippe: so steht es zumindest in quasi allen Kommentaren, unter Bezug auf Selbstaussagen bzw Tagebucheinträge Thomas Manns. Es wird aber dann auch angemerkt, dass TM bei Wiederaufnahme der Arbeiten das bisher Geschriebene überarbeitet hat. Von daher wird es nicht so ganz einfach sein, Brüche zu identifizieren. Und graduelle Entwicklungen der Perspektive bzw. z.B. der 'Feinzeichnung' von Settembrini müssen nicht zwingend die Veränderungen von TMs Ansichten zwischen 1915 & 1919 reflektieren, sondern können auch bewusst nach 1919 platziert worden sein, um zB eine graduelle Entwicklung der Erzählinstanz oder Hans Castorps widerzuspiegeln. Hier würde wohl nur eine fundierte Analyse von Manuskriptvarianten Aufschluss geben. Ich weiß aber nicht, ob das möglich ist, bzw. was an Zwischenstufen des Manuskripts überhaupt erhalten ist. Da bin ich dann als Laie mit meinem Latein & Kenntnisstand am Ende der Fahnenstange angekommen 😊 Liebe Grüße, - David
@thomasherpers73712 ай бұрын
Hallo David, vielen Dank für deine Antwort. Es ist jetzt für mich nachvollziehbar, dass man aufgrund Thomas Manns Bearbeitungen seines Textes die Brüche, wenn überhaupt, nur schwer nachweisen kann. Du hast ganz recht, die Psychoanalyse ist mir nicht ganz unbekannt, ich habe einige Jahre tatsächlich auch in einer Psychiatrie gearbeitet. Das ist nun allerdings 20 Jahre her und ich müsste mich als Fokus - Gast noch einmal intensiv mit der Psychoanalyse auseinandersetzen um dem Thema gerecht zu werden. Dazu fehlt mir momentan leider die erforderliche Muße, vielleicht können wir in einigen Monaten mal darüber reden. Alles Gute und ich bin schon gespannt auf das nächste Video.
@Gaby_S65812 ай бұрын
Lieber David, was ich an diesem Buch so faszinierend finde, ist, dass man es auf viele Arten genießen kann. Wir lesen es ja nun sehr langsam und dringen in die Tiefe vor und holen so viel aus diesem Text heraus. Andererseits habe ich das Buch vor ca. 45 Jahren schon einmal gelesen, ohne all diese Einsichten, und trotzdem muss diese Geschichte etwas unterschwellig bei mir bewirkt haben, denn ich war damals schon völlig begeistert von dem Buch und bin jetzt erstaunt, an wie viel ich mich noch erinnern kann. Mann schafft es also, sowohl den flüchtigen, oberflächlichen als auch den akribischen, hinterfragenden Leser gleichermaßen zu fesseln. Offensichtlich gelungt es ihm, dass seine Überlegungen und Botschaften auch unbewusst transportiert werden. Denn all das, was du hier jetzt ansprichst, hat damals auch schon meine Begeisterung ausgelöst, ohne dass ich das Hintergrundwissen hatte oder mir bewusst Gedanken gemacht hatte und all dies benennen konnte. Umso mehr freue ich mich, den Roman nun noch einmal auf eine völlig neue Weise neu zu ergründen. Wie immer vielen lieben Dank.
@ThomasMannProject2 ай бұрын
Liebe Gaby, das spricht für zwei Dinge: für TMs Meisterschaft, aber auch für Dein literarisches Gespür, - es ist nicht jede:r in der Lage, diese Qualitäten intuitiv zu erfassen. Liebe Grüße, - David🤗
@Dirk_Mi2 ай бұрын
Hallo David. Vielen Dank für dieses Video. Ich möchte eine Frage stellen: Die beiden bärtigen Männer, die Hans Castorp im Kapitel Hippe entgegen kamen, verabschiedeten sich mit den Worten: "Nun, so leb wohl und hab Dank!" Und auch Hans Castrop sagt nach seinem Traum als er aufsteht und geht: "Nun, so leb wohl und hab Dank!" Welche Bedeutung hat dieser Satz? Gruß Dirk.
@ThomasMannProject2 ай бұрын
Hallo Dirk, Danke für den Kommentar und die Frage. Im Kommentar zur italienischen Ausgabe habe ich die Vermutung gefunden, dass dieser Satz ein Zitat aus HC Andersens Märchen 'Däumelinchen' sein könne. In der Übersetzung von Reuscher (1850, aber auch nach 1900 noch gedruckt) heißt es dort: "Lebe wohl und habe Dank für Deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne warm auf uns herabschien". Däumelinchen sagt dies dort zu einer Schwalbe, die sie für tot hält. Ich könnte mir vorstellen, dass dies auf die sich später bei Hans einstellende Stimmung der dankbar-melancholisch auf Hippe zurückblickenden Erinnerung vorausdeutet. Das passt ja dazu, dass Hans diesen Satz nach dem Wachtraum wiederholt. Ergibt das für Dich Sinn? Herzliche Grüße, - David 😊
@ThomasMannProject2 ай бұрын
Nachtrag: "Leb wohl" zu einem für tot gehaltenen zu sagen, passt natürlich perfekt in TMs Verständnis von Ironie..
@Dirk_Mi2 ай бұрын
Ja, das ergibt Sinn und klingt sehr interessant: Däumelinchen hat den Vogel für tot gehalten. Er hat aber noch gelebt. Und nachdem sich Däumelinchen um ihn gekümmert hatte, konnte er wieder fliegen. Hans Castorp hat seine Liebe zu Hippe für tot gehalten. Dort hat er erfahren, dass sie noch lebendig ist - in Clawdia Chauchat - und er sich darum kümmern muss. Da allem Anschein nach auch die bärtigen Männer dort ein ähnliches Erlebnis hatten, scheint es dieser Ort zu sein, der diesen „magischen“ Einfluss hat. Manchmal glaube ich, dass es ganz einfach ist den Zauberber zu verstehen (Ironie!): Man muss nur das alles gelesen haben, was Thomas Mann gelesen hat. 😉
@Dirk_Mi2 ай бұрын
Ja, das ergibt Sinn und klingt sehr interessant: Däumelinchen hat den Vogel für tot gehalten. Er hat aber noch gelebt. Und nachdem sich Däumelinchen um ihn gekümmert hatte, konnte er wieder fliegen. Hans Castorp hat seine Liebe zu Hippe für tot gehalten. Dort hat er erfahren, dass sie noch lebendig ist - in Clawdia Chauchat - und er sich darum kümmern muss. Da allem Anschein nach auch die bärtigen Männer dort ein ähnliches Erlebnis hatten, scheint es dieser Ort zu sein, der diesen „magischen“ Einfluss hat. Manchmal glaube ich, dass es ganz einfach ist den Zauberber zu verstehen (Ironie!): Man muss nur das alles gelesen haben, was Thomas Mann gelesen hat. 😉
@Gaby_S65812 ай бұрын
@@ThomasMannProjectMich hat diese Redensart an ein Kinderbuch erinnert. Es sind die „Langerudkinder“ von Marie Hamsun, der Frau von Knut Hamsun. Dort war es eine Redensart, die in Norwegen wohl damals üblich war. Wenn man sich traf, begrüßte man sich mit „dankeschön für das letzte Mal“ und verabschiedete sich hinterher mit „und dank schön für heute“. Also man bedankte sich wohl für das Gespräch, die Gesellschaft.