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Im Osten der malerischen Altstadtinsel von Lübeck, dem sog. Aegidien- oder Handwerkerviertel, erhebt sich der mächtige Backsteinturm von St. Aegidien, der kleinsten lutherischen Hauptkirche der Hansestadt. Seit 2016 läuten im stattlichen Holzglockenstuhl des obersten Turmgeschosses der Aegidienkirche wieder vier Glocken, darunter die Jüngste der lübeckischen Altstadt - zugleich gehören die beiden großen jedoch zu den Ältesten. Der Senior im Turm ist die Pulsglocke, gegossen 1591 von Matthias Benningk und (früher) nach alter Sitte, wie alle großen Pulsglocken der Stadt, nur zu besonderen Feierlichkeiten und Begräbnissen geläutet - so ist sie, ihrer Bedeutung entsprechend, mit vier Wappen, darunter dem lübschen Doppeladler, verziert. Und auch wenn St. Aegidien von alters her über das kleinste Geläute der Hauptkirchen Lübecks verfügt, ist die Pulsglocke heute das größte erhaltene Werk des Lübecker Ratsgießers Matthias Benningk. Sie bildet - mit der Sermonisglocke, die 1682 von Enkel Albert Benningk, u. a. aus einer älteren Glocke von 1326, gegossen wurde - das letzte Zeugnis des originalen Geläutes. Jenes war mit sechs Läute- und zwei Zeichenglocken durchaus umfänglich. Einen einschneidenden Einschnitt erfuhr der Bestand jedoch 1905, als vier Glocken verschiedenen Ursprungs, namentlich die Bürger- (1412), Fest (1654), Toten (1561) und Beierglocke (1630), umgegossen wurden. Die Lübsche Zweigstelle der Gießerei Ohlsson fertigte eine größere Läute- (cis') und eine Schlagglocke - nur die beiden großen Glocken des gegenwärtigen Geläutes (Puls und Sermonis) beließ man im Turm. Bereits wenige Jahre später wurde die cis' von 1905 im 1. Weltkrieg als Metallspende abgegeben, später folgten ihr die beiden Zeichenglocken nach - ein tragisches Schicksal. Dass die beiden großen Benningk-Glocken noch heute erhalten sind, ist hingegen nur dem Umstand zu verdanken, dass St. Aegidien vom Bombenangriff an Palmarum 1942 weitgehend verschont blieb und die Glocken vor Ende des 2. WK nicht mehr eingezogen wurden. Dass die, 1748 in Danzig gegossene, Abendglocke (Nr. 3) entgegen einiger Behauptungen im Netz jedoch nicht zur Originalausstattung von St. Aegidien gehören kann, beweisen v. a. ihr Fehlen in der "Lübecker Glockenkunde", andererseits ihre Inschrift, die u. a. den Namen Johann Wahl - nach Recherchen ein ehem. Bürgermeister von Danzig - trägt. Sie fand wohl erst nach Kriegsende als Leihglocke ihren Weg nach Lübeck. Vermutlich als Resultat unsachgemäßen Transportes entwickelte sich in der Abendglocke zuletzt ein Riss, sodass das Instrument im Herbst 2015 stillgelegt werden musste. Anlässlich ihrer Reparatur wurde nicht nur der bemerkenswerte Holzglockenstuhl restauriert, sondern auch alle Glockenjoche von Stahl auf Holz umgerüstet und zum krönenden Abschluss 2016 eine vierte Glocke in der Fa. Rincker gegossen. Das klanglich recht moderne Instrument ist dabei als gelungene Ergänzung der Harmonielinie, aber auch Kontrapunkt zu den hist. Glocken anzusehen, vermag jedoch die klanglichen Schwächen der Danzinger Glocke auszugleichen. So nimmt das Geläute von St. Aegidien, angeführt von der klangvollen Pulsglocke, (wieder) einen würdigen Platz im großen Klanghimmel des Lübecker Stadtgeläutes ein.
Gl. 1 | Puls | h°-9 | 3000 kg | 1698 mm | Matthias Benningk, Lübeck (1591)
Gl. 2 | Sermonis | dis'-8 | 1864 kg | 1399 mm | Albert Benningk, Lübeck (1682)
Gl. 3 | Abend | e'±0 | 900 kg | 1165 mm | Johann Gottfried Anthony, Danzig (1748)
Gl. 4 | Johannes | fis'-5 | 940 kg | 1145 mm | Gebr. Rincker, Sinn (2016)
Dachreiter: zwei Schlagglocken von L. Strahlborn (1732) und von 1905.
Die Aegidienkirche geht auf einige Vorgängerbauten zurück, darunter auch ein Gotteshaus aus Stein, das 1227 erstmals erwähnt wurde. Mit dem Bau der heutigen Backsteinhallenkirche wurde noch vor 1350 begonnen, bis 1446 konnten Chor und der imposante Turm fertiggestellt werden - der Anbau verschiedener Kapellen erfolgte zwischen 1400 und 1760. Die Ausstattung ist überwiegend nachreformatorisch, dafür aber beinahe vollständig erhalten und ermöglicht somit eine Vorstellung des Erscheinungsbildes der Lübecker Innenstadtkirchen vor 1942 - St. Aegidien hat alle kriegerischen Auseinandersetzungen überstanden. Neben dem prächtigen gotisch-barocken Taufbecken muss vor allem das aufwändig gearbeitete Prospekt der Scherer-Orgel von 1624/25 erwähnt werden, auch wenn die Orgel selbst 1982 aus Bonn geliefert wurde. Besonders außergewöhnlich ist jedoch der geschnitzte Singechor aus der Spätrenaissance (1587), welcher Chor und Mittelschiff trennt und von Bibelszenen verziert wird.
Ablauf der Vorstellung:
00:00 Eindrücke der Kirche, Geläute
02:45 Schlagglocken
03:15 Läuteglocken
15:30 Vollgeläut
Herzlichen Dank an Herrn Kranz für die freundliche Ermöglichung der Aufnahme!
Quellen:
1* Hach, Theodor: Lübecker Glockenkunde. 1913.; 2* Turmbesteigung 10.08.21.; 3* St. Aegidiengemeinde zu Lübeck (Hrsg.): St. Ägidien zu Lübeck. o. J.
Text, Ton & Bild: Ben Schröder, "Glockenzeit". #glocken