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www.wo-tv.eu/autorentv.html Zum Tode Marcel Reich-Ranickis: Ein deutsches Leben Seinen Platz im Leben musste sich Marcel Reich-Ranicki erkämpfen - zuletzt war er populärer als jeder andere Kritiker in Deutschland. Das verdankte er einem Medium, das er als "Blödsinn" verdammte: dem Fernsehen. Jetzt ist der Star des "Literarischen Quartetts" im Alter von 93 Jahren gestorben.
Es dürfte wenige Deutsche geben, die bei diesen Sätzen nicht die Stimme von Marcel Reich-Ranicki im Ohr haben: "Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman" schrieb der Literaturkritiker 1976 - und zog das Fazit: "Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen." Der Text selbst trug die Überschrift "Jenseits der Literatur". Es war nicht bloß irgendeine gemeine Zeile, sondern eine polemische Variation des eigentlichen Romantitels: "Jenseits der Liebe".
Marcel Reich-Ranicki liebte das drastische Urteil. Er hatte kein Problem, eine Sammlung seiner Rezensionen den Titel "Lauter Verrisse", einer anderen "Lauter Lobreden" zu geben. Es war deshalb nur konsequent, dass es gerade zwei Jahre dauerte, bis er die nächste Veröffentlichung des geschmähten Autors voller Begeisterung besprach: "Sein reifstes, schönstes und bestes Buch" - und in der "FAZ" vorabdrucken ließ. Das Buch war "Ein fliehendes Pferd", der Autor war Martin Walser.
Wie das Zerwürfnis zwischen Reich-Ranicki und Günter Grass, gehört auch der Dauerkonflikt zwischen Reich-Ranicki und Martin Walser zu den Ereignissen, die ein Publikum erreichten, das sich für den Literaturbetrieb sonst kaum interessiert - und das weniger, weil hier eine spektakuläre Auseinandersetzung stattfand. Es war Reich-Ranickis ganz eigenes Charisma, das ihn derart populär machte. Schließlich lud man ihn selbst dorthin ein, wo Menschen aus dem Kulturbereich als Quotengift gelten: zur Verleihung des Deutschen Fernsehpreises. Mit einem vehement geschnarrten "Blödsinn!" lehnte er 2008 die Auszeichnung ab - und machte die Veranstaltung so überhaupt erst zum Ereignis.
Als "Literaturpapst" war Reich-Ranicki eine Größe des Feuilletons geworden. Eine Berühmtheit aber, die das breite Publikum erreichte, wurde er durch das Medium, das er geschmäht hatte: das Fernsehen. Durch das "Literarische Quartett" im ZDF, durch die Verfilmung seiner Autobiografie "Mein Leben" in der ARD.
Literaturkritiker gab und gibt es viele - aber es gab nur einen, der mit pointierten Kritiken ein breites Publikum dazu brachte, sich auch für Autoren zu interessieren, die mit der üblichen Bestseller-Stapelware nichts zu tun haben. Marcel Reich-Ranicki war, ungewöhnlich genug für einen Literaturkritiker, ein Star. Und das, obwohl er sich mit dem Mainstream viel weniger gemein machte, als diejenigen glaubten, die ihm unterstellten, allzu popularitätsheischend zu urteilen. Auch als Star aber ist er immer ein Außenseiter geblieben.
"Schick mir mal wieder 'n paar Gedichte"
15 Jahre lang, von 1973 bis 1988 leitete Reich-Ranicki das "Literarische Leben" der "FAZ" . In einer Zeit, in der das Blatt für seine konservative Linie noch viel bekannter war als heute, setzte er sich für Linke, für DKP-nahe Autoren ein. Als der Lyriker Erich Fried sinngemäß schrieb, es sei ein Fehler der RAF gewesen, den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback zu ermorden, man hätte besser Friedrich Karl Fromme von der "FAZ" erschossen, rief Reich-Ranicki, nachdem eine gewisse Schamfrist verstrichen war, wieder bei Fried an: "Schick mir mal wieder 'n paar Gedichte." Und druckte sie.
Wann seine Liebe für die Literatur angefangen habe, wisse er nicht mehr genau, schrieb er in seinen Memoiren, 1999 unter dem Titel "Mein Leben" veröffentlicht und ein gigantischer Erfolg mit einer Gesamtauflage von über 1,2 Millionen Exemplaren. Seine Mutter Helene müsse seine Begeisterung früh bemerkt haben: Als ihr Sohn zwölf Jahre alt war, schenkte sie ihm eine Karte für die Aufführung von Schillers "Wilhelm Tell" im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt.
Wo immer er auch auftrat, man hatte das Gefühl: Hier spielt ein Mann eine Rolle, ohne die es ihm kaum möglich gewesen wäre, sein Leben nach den Erfahrungen im Ghetto zu meistern. Marcel Reich-Ranicki hat sein Leben nicht nur gemeistert - er musste es sich erkämpfen.
Am 18.9.2013 ist Marcel Reich-Ranicki im Alter von 93 Jahren gestorben.
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