Nils liest - Wo geht die Liebe hin?

Nils liest: Wo geht die Liebe hin?
Von Nils Nöske
(03.10.2011 für Liebe ohne Vergänglichkeit)
Einst kam ein junges Mädchen zu Bidhan dem Erleuchteten, um mit ihm zu sprechen. Sie war durcheinander, schien Bitternis und Trauer mit sich zu tragen. Ihre Augen wirkten suchend und ihre Stimme ratlos, als sie fragte:
„Könnt Ihr mir sagen, wo die Liebe hingeht? Wohin verschwindet sie, wenn sie einen Menschen verlässt?“
„Ah, ich denke, ich verstehe deine Frage“, sprach da der Erleuchtete lächelnd und dachte eine Weile über seine Antwort nach. „Wenn Liebe dich erfüllt, so weißt du es, denn wir erkennen sie. Deutlich ist sie zu sehen wie ein mächtiges Gebäude. Doch wenn Unsicherheit und Furcht wie Wolken über diesem Gebäude aufziehen und dann beginnen, Zweifel herabregnen zu lassen wie dicken Schlamm, der vom Himmel fällt, versinkt das Gebäude Stück für Stück. Immer tiefer sinkt es ein und verschwindet langsam unter enttäuschten Erwartungen, unter Eifersucht, unter Zorn, unter Trauer, unter dem verblendenden Dreck.
Doch wenn du die Erkenntnis und die Sicherheit erlangst, dass es niemals nötig ist, Schlamm über jenem Ort regnen zu lassen, dann geschieht etwas Sonderbares. Mächtige Regengüsse aus klarstem Wasser spülen den Dreck hinfort, lassen ihn sich auflösen, als wäre er niemals dort gewesen.
Zurück bleibt nur ein sauberes Gebäude, das standhaft allem Schmutz getrotzt und die Tage unter der Erde unbeschadet überstanden hat. Es bleibt nichts zurück als reine, vollkommene Liebe.“
Da sah ihn das Mädchen verständnislos an, denn sie wusste nicht, ob sie Bidhan seine Worte glauben sollte oder ob es nicht sogar gefährlich oder vielleicht dumm war, ihm bei dieser Angelegenheit ihr Vertrauen zu schenken.
„Wenn du mich also fragst, wo die Liebe hingeht, dann müsste ich ohne jeden Zweifel antworten: Hier!“, sprach der Erleuchtete freundlich und tippte auf die Brust des Mädchens, genau an jene Stelle, unter der ihr Herz saß.
Dann verabschiedete er sich höflich und verließ lächelnd den Ort. Er hoffte, irgendwann würde das Mädchen die verlorene Liebe wiederfinden. Und nicht nur dieses eine Gebäude, nein, die ganze Stadt, die in jedem Menschen schon immer begraben liegt, hoffte Bidhan, würde diese junge Frau eines Tages erblicken können. Doch zunächst einmal musste der Schlamm fortgewaschen werden. Und dieser Schritt würde der schwerste sein.